Havixbeck. Auch die Gemeinde Havixbeck wird dem Riga-Komitee beitreten. Schon vor ein paar Wochen stellte der Friedenskreis an der Anne-Frank-Gesamtschule diesen Antrag, der im Gemeinderat wohlwollend aufgenommen wurde. Der Wortlaut: „Havixbeck tritt dem Riga-Komitee bei – getragen von dem Willen, die Erinnerung an die ermordeten Bürgerinnen und Bürger dauerhaft zu bewahren und ihrer zu gedenken, in der Überzeugung, dass die Gräber- und Gedenkstätte Riga einen bedeutenden, die Heimatstädte umschließenden, zeitgeschichtlichen Beitrag leistet, mit dem Ziel, den auf einer langen gemeinsamen Geschichte beruhenden Beziehungen unserer beiden Länder, ihrer weiteren Entwicklung und dem Frieden in Europa zu dienen.“
Zu dem Hintergrund dieses Antrags lud nun der Friedenskreis alle Mitglieder des Gemeinderates und alle Bürgerinnen und Bürger ein.
Bürgermeister Jörn Möltgen begrüßte alle TeilnehmerInnen.
Christa Degemann-Lickes, Vorsitzende des Friedenskreises, erinnerte an das Schicksal der Familie Gerson aus Havixbeck.
Mit einem Lichtbildvortrag mit anschließendem Gespräch erzählte Winfried Nachtwei die Geschichte der Deportationen nach Riga.
Georg Schulze Bisping, lange für die CDU im Nottulner Gemeinderat, berichtete eindrucksvoll von seinen ersten Reisen nach Riga. Schulze Bisping ist der Riga-Beauftragte der Gemeinde Nottuln.
Am 13. Dezember 1941 verließ ein Deportationszug mit 390 jüdischen Frauen, Männern und Kindern aus dem Münsterland den Güterbahnhof in Münster. Mit dabei auch der Havixbecker Kurt Gerson. Nachdem in Osnabrück 200 und in Bielefeld 420 weitere Menschen in den Zug gezwungen worden waren, fuhr er Richtung Riga. Dort, im „Reichsjudenghetto“, im KZ Salaspils und Wald von Bikernieki begann der Massenmord an den jüdischen Menschen aus dem Münsterland, aus Westfalen und anderen Teilen Deutschlands. In Riga starben die weitaus meisten der über 170 Holocaustopfer des Kreises Coesfeld.
In den Tagen zuvor waren Züge mit jeweils 1000 Menschen aus Berlin, Nürnberg, Stuttgart, Hamburg, Köln, Kassel und Düsseldorf nach Riga gefahren, am 15. Dezember folgte ein Zug aus Hannover, am 27. Januar 1942 einer aus Dortmund.
Ihr Schicksal war über fast fünf Jahrzehnte weitgehend unbekannt. Die vielen Massenmörder und Helfershelfer kamen überwiegend ungeschoren davon.
1989 stieß der damalige Dülmener Geschichtslehrer Winfried Nachtwei im noch sowjetisch besetzten Riga auf die Spuren der Deportierten und lernte Überlebende von Ghetto und KZ kennen.
In seinem illustrierten Vortrag folgte Nachtwei den Spuren der Verschleppten im deutsch-besetzen Riga und dem Schicksal der wenigen Überlebenden nach Kriegsende. Als Bundestagsabgeordneter setzte sich der Referent für eine würdige „Entschädigung“ der Holocaust-Überlebenden in Osteuropa ein, die 1998 endlich durchgesetzt werden konnte.
Am Beispiel des Massengräberfeldes und der Gedenkstätte im Wald von Bikernieki schilderte Nachtwei, wie nach Jahrzehnten die Erinnerung aufbrach. Eine zentrale Rolle hatte dabei der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und das Deutsche Riga-Komitee, in dem sich inzwischen 57 Herkunftsorte der Riga-Deportationen zu einem einzigartigen Netz der Erinnerung zusammengefunden haben. In Workcamps des Volksbundes kommen alljährlich junge Leute aus Deutschland, Österreich, Lettland und anderen Ländern zusammen, um die Gedenkstätte zu pflegen und Erinnerung lebendig zu halten.
Der Vortrag verdeutlichte aber auch, wie schwierig es im Baltikum ist, vor dem Hintergrund von 50 Jahren wechselnden Okkupationen zu einer gemeinsamen Erinnerungskultur zu kommen.
Winfried Nachtwei war 1994-2009 Bundestagsabgeordneter der Grünen und heute u.a. im Vorstand von „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.“ und der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen/DGVN tätig.
Foto: Im Juni 2023 fuhr eine Nottulner Delegation nach Riga (links: Georg Schulze Bisping), um dort an dem Gedenkstein „Nottuln“ Blumen niederzulegen. Georg Schulze Bisping wird von dieser beeindruckenden Reise berichten.